Wiederhole die Zielbewegung, z.B. eine bestimmte Kraultechnikvariante, möglichst oft und exakt im Training, damit sie sich automatisiert und du sie im Wettkampf abrufen kannst.
Kommt dir das aus deinem Training bekannt vor? Versuchst du, auf diese Weise deine Kraultechnik zu verbessern?
Dann folgst du der sog. Programmtheorie, einem klassischen Verständnis vom Bewegungslernen. Es geht davon aus, dass wir durch zahlreiche Wiederholung des Gleichen bestimmte neuronale Verbindungen im Gehirn einschleifen. Es entstehen Bewegungsprogramme (motorischen Programme), die bestimmte Bewegungsabläufe steuern. Beim Üben wird eine Idealform (Leitbild) angestrebt. Abweichungen bei der Ausführung werden als Fehler bezeichnet und sollen vermieden werden. Wenn im Übungsprozess eine beobachtende Person zur Verfügung steht, wird vorwiegend mit Fehlerkorrektur gearbeitet.
Schematisch kann dieser Vorgang so dargestellt werden:
Das Differenzielle Bewegungslernen bezweifelt diesen Ansatz. Statt von Einschleifen, Automatisieren und Abrufen zu sprechen, wird davon ausgegangen, dass jede Bewegungsausführung immer situativ und individuell ist. Das heißt einzigartig!
Dieser Blickwinkel geht auf Ergebnisse von biomechanischen Untersuchungen zurück, die der Sportwissenschaftler Wolfgang Schöllhorn mit seiner Arbeitsgruppe in den 90er Jahren durchführte. Die Ergebnisse zeigten, dass es keinem der zahlreichen untersuchten Sportler*innen gelang, eine Bewegung ein zweites Mal exakt gleich auszuführen.
Diese Beobachtungen lassen sich mit dem sog. Systemdynamischen Ansatz erklären. Demnach unterliegen sowohl der Mensch als auch seine Umgebung ständigen Schwankungen und Veränderungen. Unter diesen Bedingungen kommen wir notwendigerweise zu ständig neuen Bewegungslösungen.
Die Schwimmsplitts im Triathlon bieten dafür ein anschauliches praktisches Beispiel: Es ist ausgeschlossen, dass eine Triathletin oder ein Triathlet die Schwimmstrecke jemals unter identischen Voraussetzungen zurücklegt. Witterungsbedingungen, Wasserqualität, Ort, Lichtverhältnisse, Startvorgang, Anzahl der Teilnehmenden, Trainingszustand, mentale Verfassung, etc. sorgen ständig für neue Herausforderungen. Die Schwimmbewegungen können unter diesen Voraussetzungen nicht immer gleich sein. Oder anders formuliert: sie müssen ständig diesen Veränderungen angepasst werden, um erfolgreich zu sein.
Für das Bewegungslernen warfen die Untersuchungsergebnisse von Schöllhorn’s Arbeitsgruppe die Frage auf, ob ein Einschleifen durch Wiederholung überhaupt möglich sei, wenn sich sowieso alle Bewegungsausführungen voneinander unterschieden.
Lernfortschritte und erfolgreiche Bewegungsausführungen u.a. im Wettkampf konnten für Schöllhorn und seine Mitarbeitenden nicht länger damit erklärt werden, dass im Training ein idealer Bewegungsablauf automatisiert worden war. Sie gingen davon aus, dass gerade die Unterschiedlichkeit der Bewegungsausführungen (auch bei vermeintlich exakter Wiederholung) den Lernreiz ausmachte. Dies bedeutet nicht, dass Bewegungswiederholungen in Übungs- und Trainingsprozesses keinen Sinn machen würden. Aber die Ursache, die als Begründung für Lernfortschritte herangezogen wird, ist eine andere.
Das führte zu folgenden methodischen Konsequenzen, die das Besondere des Differenziellen Bewegungslernens kennzeichnen:
- Schwankungen werden mit Hilfe zahlreicher Bewegungsvariationen gezielt, bewusst und systematisch genutzt
- Fehler im klassischen Verständnis gibt es nicht
- Auf Korrektur wird weitestgehend verzichtet
- Für eine Bewegungsaufgabe wie z.B. das Kraulschwimmen sollen möglichst viele Lösungen erprobt und ausgeführt werden
- Ziel ist die Schaffung von Voraussetzungen für situativ-individuelle Optimallösungen
Ich integriere diesen methodischen Ansatz seit vielen Jahren in das Schwimmtraining mit Triathletinnen und Triathleten und in die Übungsstunden mit Erwachsenen, die das Kraulschwimmen erlernen wollen. Zu den wesentlichen Erfahrungen, die ich dabei machen konnte, zählen:
- Trainings und Übungsstunden sind kurzweilig und anregend,
- auch Quer- und Späteinsteiger*innen entwickeln ein solides Wasserbewegungsgefühl und
- sie können ihre Wahrnehmungen reflektieren und kommen eigenständig zu Erkenntnissen und Bewegungslösungen.
Für Triathletinnen und Triathleten, die ihr Schwimmtraining oftmals allein durchführen, ist es eine sehr gute Möglichkeit, sich unabhängig von einer/
Literaturhinweise:
Wolfgang Schöllhorn, »Differenzielles lernen im Schwimmen — eine Alternative« in DSTV, Schwimmen — Lernen und Optimieren, 2010, Band 31
Arturo Hotz, »Qualitatives Bewegungslernen«, 1997
In Kürze folgt:
Differenzielles Bewegungslernen II „Spüre den Unterschied!“
Hinweise für die Trainingspraxis und Übungsbeispiele
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